Ausdruck der frühen Mutter-Kind-Beziehung im Atem- und Formenfluss nach J.S. Kestenberg
Die Psychoanalytikerin J. S. Kestenberg erstellte anhand von 20-jährigen Studien des sensomotorischen Mutter-Kind-Dialogs eine umfassende Bewegungsgrammatik, das "Kestenberg-Movement-Profile" (KMP). Das KMP stellt eine Weiterentwicklung von Psychoanalyse und tanztherapeutischer Methodik zur Anwendung in der Körperpsychotherapie dar.
Für die praktische und theoretische Arbeit mit diesem tanztherapeutischen beziehungsorientierten Atem-Ansatz in Zusammenhang mit Krebspatienten:innen wurde mir 1996 der 1. Preis der Internationalen Gesellschaft für Kunst, Gestaltung und Therapie (IAACT) verliehen. Diese Arbeit wurde im Jahr 2015 vom Akademiker-Verlag als Buch veröffentlicht.
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Zwei Grundschemata der Bewegung und der Mutter-Kind-Interaktion sind nach Kestenberg bedeutsam:
KMP I - "tension-flow-effort"-System: Spannungsfluss-Rhythmen
KMP II - "shape-flow-shaping"-System: Da dieses den Formenfluss betonende Bewegungssystem untrennbaren Bezug zur Atmung besitzt, wird es im Folgenden näher beschrieben.
KMP II Formenfluss
Der Formenfluss "shape flow" beschreibt rhythmische Änderungen der Körperformen. Er ist die Abfolge von "growing" (wachsen), das heißt öffnen, und "shrinking" (schrumpfen), also schließen. Es handelt sich um kontaktfördernde und kontaktablehnende Bewegungsmuster. "Shape flow" spielt eine wichtige Rolle bei der emotionalen Kommunikation, indem er Struktur für den Ausdruck und die Identifizierung von Gefühlen bietet. Er gibt den Spannungsfluss-Rhythmen eine visuell direkt verstehbare Gestalt.
Dem Formenfluss liegt der Atemrhythmus als Kernmechanismus zugrunde: "Das normale Bewegungsrepertoire des Neugeborenen nimmt in den Impulsen des Atemrhythmus seinen Ursprung. Alle Ausdrucksbewegungen basieren auf Ableitungen oder auf dem direkten Ausdruck von Veränderungen in der Atmung". Dem Atemfluss kommt die Funktion der primären kommunikativen und organisatorischen Verbindung zwischen dem Selbst und dem Objekt zu. Zudem dient dem sog. Es (dem Freud´schen Unbewussten) zum Transfer der Triebe.
Das "shape-flow-shaping"-System definiert die Bewegungsentwicklung des Kindes als oszillierenden Prozess, der stufenförmig fortschreitet und von Selbstgefühlen des Individuums hin zur Entwicklung reifer Beziehungen mit anderen Menschen führt.
In jeder neuen Entwicklungsphase werden jeweils in einer anderen räumlichen Dimension das Wachsen und Schrumpfen weiter ausgearbeitet. Die öffnenden Bewegungen strukturieren die Einfühlung (Liebe) in den libidinösen Unterphasen. Die schließenden Formen stehen im Dienste der anderen Polarität, der Aggression, und sind in den sadistischen Unterphasen dominant. Für eine seelische Balance ist es notwendig, beide Tendenzen der Körperformung in jeweils allen räumlichen Dimensionen integriert zu haben.
In der sogenannten oralen Entwicklungsphase wird vom Säugling mit den Bewegungen in der Horizontalen die Aufmerksamkeit für innere und äußere Vorgänge und die Kommunikationsfähigkeit herausgebildet. Während der sogenannten späteren analen Phase sind die Eroberung der Vertikalen sowie Intentionalität und Konfrontation als Grundlage für Präsentation und Symbolisierung die Anforderungen. Während der von Kestenberg neu hinzugenommenen reiferen urethralen Etnwicklungshase steht die Sagittale als Ebene der "Operation", der zielgerichteten Handlung, welche die Entscheidungsfindung ermöglicht, im Vordergrund.
Angleichen und Konflikte
Eine der ersten Lebenserfahrungen des Menschen ist, in Mutters Armen gehalten zu werden. Auf ihrer Brust liegend, fühlt das Baby den Atemrhythmus der Mutter und spürt die Unterstützung der Umarmung auch in ihrem Rumpf. So wird dem Kind geholfen, seinen unreifen Atmungsmechanismus zu regulieren. In einer harmonischen Mutter-Kind-Interaktion wenden sich beide Partner einatmend gleichzeitig einander zu. Sie nehmen Kontakt auf, oder sie weichen ausatmend voreinander zurück, womit sich eine leichte Trennung ereignet.
"Wenn sich beim Stillen der Hals des Säuglings nach links dreht, streckt sich gleichzeitig sein linker Arm aus und legt sich um den Rücken der Mutter. Der rechte Arm winkelt sich ab und ruht auf der mütterlichen Brust. Auf ähnliche Weise schlingen sich die Beine um die Mutter. In dieser Position gestützt, hält auch der Säugling die Mutter. Bei der Einatmung der Mutter spürt das Baby die mütterliche Ausdehnung zu ihm hin, wenn sie ausatmet, fühlt das Kind, wie sich Mutters Körper von ihm wegbewegt. Auch das Baby atmet ein, wächst der Mutter entgegen und saugt, dann atmet es aus, löst sich und schluckt die Milch. Eine faszinierende Entdeckung war, dass sogar die Milch in einem ähnlichen Rhythmus in die Brustwarze strömt. So stimmen sich der Atem und das Saugen des Babys auf den Atem und den Milchfluss der Mutter ein. Sie wiederum gleicht ihren Rhythmus dem des Kindes an".
Das dynamische beiderseitige Aneinander-Angleichen in Formenfluss und Atemrhythmus definiert Kestenberg als "adjustment". Keiner der beiden Partner ist dabei passiv, beide sind von Anfang an integrale Elemente der Beziehung. Das Kind spiegelt und beeinflusst direkt die Form der Pflegeperson. Die subjektive Erfahrung des Säuglings, seinen sensorisch stimulierenden Input selbst aktiv regulieren zu können, die Erfahrung, dass ihm Angenehmes entgegenkommt, wenn er sich einem Objekt zuwendet, und dass er Unangenehmem oder überforderndem aus dem Weg gehen kann, indem er sich abwendet oder zurückzieht, ist von besonderer Bedeutung.
Es stellt aus Kestenbergs Sicht die Grundlage für die Entwicklung des Urvertrauens dar. Von Anfang an sei das Urvertauen mit Autonomie und Empathie verquickt. Das Gefühl von Sicherheit und vertrauenswürdiger Umgebung in der Säuglingszeit stellt demnach die Grundlage für die Ausprägung des Selbstvertrauens und interpersonaler Beziehungen dar.
Bei doppeldeutigen Botschaften entstehen Konflikte, "clashes". Diese können beim Kind zu Gefühlen der Verbindungslosigkeit, Selbstzweifeln und mangelndem Vertrauen auf Unterstützung führen. Langzeit-Konflikte können beim Kind in eine ständig "geschrumpfte" Körperhaltung münden. Wohldosierte clashes im Formenfluss unterstützen die Autonomie, ein erster Schritt auf dem Weg zur räumlichen Objektkonstanz und zur Fähigkeit allein zu sein, ohne einsam zu sein.
KMP II in Bezug zur modernen Säuglingsforschung: "Der kompetente Säugling"
Das Kestenberg-Modell integriert die Triebpsychologie, die Theorie der Objektbeziehungen und die der Selbstpsychologie. Das KMP II lässt sich beispielhaft auf den Ansatz des bekanntesten Theoretikers der neueren Säuglingsforschung D. Stern beziehen.
Stern und Kestenberg schätzen beide die Fähigkeiten des Säuglings besonders hoch ein. Stern bezeichnet den Säugling von Anfang an als "kompetent", aktiv, differenziert, wahrnehmungs- und beziehungsfähig, als ein Wesen mit Gefühlen. Demnach resultieren Wachstum und Entwicklung aus einem Zusammenspiel von Kräften beider Beziehungspartner ("primäre Intersubjektivität"). Kestenberg prägte hierfür den Begriff "adjustment". Zu den Copingmechanismen eines vier Wochen alten "kompetenten" Kindes gehöre es auch laut Stern, dass es zusammenschrumpft und sich abwendet (Flucht), Unangenehmes mit Händen und Füßen wegzutreten versuche (Kampf), ins Leere schaue oder einschlafe (Verleugnung), anfange zu schreien oder zu wimmern (Protest, Verzweiflung). Hier wird die Parallele zum KMP deutlich.
Nach Stern ist das Selbstempfinden des Kindes das organisierende Prinzip der Entwicklung. In den ersten zwei Lebensmonaten, der Zeit des noch unbewusst erlebten "auftauchenden Selbstempfindens" tragen subjektive Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Ausdrucks dazu bei, Regelmäßigkeit und Geordnetheit im Leben des Säuglings herzustellen und ein Körper-Selbst aufzubauen. Nach zwei Monaten findet der erste qualitative Entwicklungssprung statt, der einen tiefen Einschnitt, fast wie die Geburt, bedeutet. Verhalten, das bisher unter endogener Kontrolle stand und spontan und unbewusst ablief, kann nun exogen kontrolliert oder beeinflusst werden. Jetzt gerät auch die Atmung unter den willkürlichen Einfluss des Großhirns.
In der anschließenden Periode entwickelt sich das Kernselbstempfinden des Kindes. Selbst und Objekt werden als physisch getrennte Wesenheiten wahrgenommen, die miteinander in Beziehung treten können. Jetzt wird die Fähigkeit zur körperlichen Intimität gegründet. Diese beruht auf: 1. einem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, sensorische Stimulierung regulieren zu können, 2. einem Vertrauen darauf, dass der andere dabei behilflich sein kann, 3. der Erfahrung, dass Erregung mit einem anderen angenehm sein kann. Umgekehrt begründen weniger gute Regulationserfahrungen ein reserviertes Verhältnis zu Körperlichkeit und Erregung, so dass sie nicht in der Beziehung genossen werden können. Zwischen dem 7. - 9. und 15. - 18. Monat wird dann das bewusste, das subjektive Selbstempfinden gebildet.